Kapitel 3 - Pompidous Reise 1
Pompidou war nicht gerade die schlauste Möwe. Möwen galten allgemein nicht als die pfiffigsten Vögel, aber Pompidou setzte der ganzen Sache die Krone auf. Sie war die erste Möwe, die versehentlich aus dem Nest fiel und auch die letzte, die das Fliegen erlernte. Pompidou war in vielen Situationen zutraulicher, als sie sein sollte. Sie erkannte Gefahren erst zu spät und hatte keine Angst vor anderen Tieren oder Menschen. Nicht weil sie tapfer war, sondern weil ihr Intellekt schlicht zu gering war, eine Gefahrensituation überhaupt zu erkennen. Pompidous Tag verlief so wie immer: nach dem Aufstehen aß sie die Reste der anderen Möwen vom Strand. Selbst war sie zu ungeschickt, etwas zu fischen, doch die Reste der anderen schmeckten ihr genauso gut. Dann flog sie stundenlang über das Meer. Ihr Flug war recht ziellos, da sie oft vergas, wo sie überhaupt hinfliegen wollte. So flog und flog sie am Horizont, bis sie etwas spannendes fand. Und da war auch tatsächlich etwas wirklich spannendes. Durch ein leuchtendes Etwas kamen Menschen auf eine Insel. Alle andere Möwen haben schnell das Weite gesucht, als sich das glänzende Teil am Strand auftat. Doch nicht Pompidou. Sie flog geradewegs auf das Ding zu, setzte sich auf eine Palme in der Nähe und schaute zu, was die Menschen da am Strand trieben. Drei Menschen konnte sie sehen und eine Kugel. Sie funkelte in der Sonne, was Pompidou noch ziemlich anzog.
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Riku lag am Strand. Die Tatsache, dass er plötzlich wieder die Erdanziehungskraft unter seinen Füßen genießen durfte, das plötzliche Vorhandensein einer Atmosphäre sowie die Reise von 300 Jahren durch Zeit und Raum haben ihn buchstäblich umgehauen. Als er langsam seine Augen öffnete sah er die Welt um sich herum nur verschwommen. Die Sonne blendete ihn und der Geruch vom Meersalz in der Luft weckte diffuse Kindheitserinnerungen von Strandurlauben in ihm, die überhaupt nicht in die Situation passten. Mit aller Kraft stützte er sich auf die Knie. Das Mädchen, der Pirat und selbst die Kugel standen um ihn und starrten Riku an. Für ein paar Momente rauschte nur das Meer und die Möwen quakten aufgeregt in der Luft. "Dir fehlen Nährstoffe, Mann im Mond. Vielleicht solltest du etwas essen. Der Gestrandete hat auch in einem Fass etwas Regenwasser aufgefangen. Ich empfehle dir die Zufuhr dieser für dich lebensnotwendigen Stoffe." Das Mädchen klang bei ihren Worten so nüchtern, wie er es bereits auf der Raumstation vernommen hatte. Riku blickte sie verdutzt an. "Warum nennst du mich Mann im Mond?" war seine erste Frage, die er stellte. Nicht etwa "Wo bin ich hier?" oder "Wer seid ihr drei?" Das Mädchen antwortete gewohnt berechnend "Ich besitze in meinen Datenspeicher noch keinen Namen für dich. Aus diesem Grund generiere ich einen Namen basierend auf Erfahrungen. Der Gestrandete nannte dich so. In seiner Zeit kennt man noch keine interstellaren Reisen, jedoch die Geschichten von einem Mann im Mond. So kam dein Name zustande." Riku blickte nun fragend zu dem Piraten, dieser zuckte jedoch nur mit den Schultern "Schaut mich nicht so an. Ich verstehe meist nur die Hälfte von dem was sie sagt."
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Jetzt raffte sich Riku auf seine Beine. Er musste kurz verschnaufen, plötzliche Bewegungen unter der Erdanziehungskraft waren noch äußerst anstrengend für ihn. "Okay okay. Ich weiß was hier passiert. Ich befinde mich immer noch auf der O'Neill Zero. Der Sauerstoff ist mittlerweile so gering, dass ich Ohnmächtig bin und nun habe ich noch einen letzten konfusen Traum, bevor ich für immer friedlich einschlafe." Das Mädchen hakte ein "Negativ, Mann im Mond. Du befindest dich auf einer kleinen unbewohnten Insel in der Nähe von Port Royal, im Jahre 1712. Der Gestrandete benutzt diese Insel, um sich vor der britischen Marine zu verstecken und um alkoholische Getränke auf illegalem Weg nach Port Royal zu befördern. Er nennt diesen Vorgang "Schmuggeln"." Riku fuhr sich durch die Haare. Verwirrt und nervös lief er ein Stück den Strand entlang zum Meer. Alles wirkte verblüffend echt. Er roch definitiv das Meersalz in der Luft. Es war warm und die Sonne schien, so wie er es mochte. An dem Ort hier war es einfach nur traumhaft. Riku hat das Meer auf der Raumstation vermisst. Er tauchte seine Hand ins Wasser. Es war angenehm, doch eignet sich der Overall den er trug nicht gerade zum schwimmen. "Das ist doch verrückt...was du mir hier erzählst ist verrückt." wieder schaute Riku zum Piraten, in der Hoffnung in ihm einen Verbündeten zu finden, doch dieser schaute ihn nach wie vor entgeistert an. "Ich appelliere an deinen Verstand. Diese Situation wirkt surreal für dich, Mann im Mond. Diese Denkweise ändert jedoch nichts an ihr." erklärte ihm das Mädchen.
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Riku drehte sich schlagartig um und stellte sie zur Rede "Okay okay okay. Nehmen wir an du sagst die Wahrheit. Warum bin ich dann hier? Warum bist du durch dieses Portal...nein dieses Wurmloch gekommen, um mich nach Jamaika ins Jahr 1712 zu holen?" Ihr Blick blieb annähernd emotionslos. Sie antwortete pragmatisch "Ich wollte dich nicht hier her holen. Primär benötigte ich Energie, um ein weiteres Portal öffnen zu können. Porta hat einen Zeitscan veranlagt, um ein Energieniveau zu finden, an das sie sich koppeln konnte. Wir haben deine Raumstation gefunden und konnten durch den vorangegangenen Meteoriteneinschlag ein Portal öffnen. Porta nahm weitere Energie durch die Computer der Raumstation auf und ist jetzt in der Lage, mich in die Zeit zu befördern, in die ich eigentlich wollte. Zudem haben wir deine Pflanzen an uns genommen, da der Gestrandete dringend Nährstoffe brauchte." Die Kugel warf fröhlich ein "Porta! Das bin ich!" in das Gespräch ein. Der Pirat meldete sich ebenfalls zu Wort "Die Tomaten schmecken etwas säuerlich." Ein weiteres mal fuhr sich Riku durch die Haare. Er versuchte der Situation Herr zu werden, was ihm leider nicht gelang. "Das ist doch nicht wahr. So etwas kann nicht wahr sein." stammelte er. Er fasste sich wieder "Dann bringt mich zurück in meine Zeit! Ich gehöre hier nicht her! Du hast ja selbst gesagt, du kannst jetzt wieder Wurmlöcher erzeugen." forderte er das Mädchen auf. "Negativ" war ihre Antwort. "Nega...warum?" entgegnete Riku verblüfft. Das Mädchen erwiderte sofort "Ich habe einen Auftrag. Ich muss nach Paris im Jahre 1845. Ich soll den Schriftsteller Jules Vernes davon abhalten sein Buch "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" zu veröffentlichen. Außerdem ist es mir nicht gestattet in deine Zeit zu reisen. Ich würde das Zeitgefüge zu sehr beeinflussen, was meiner Mission und der Geschichte der Menschheit nicht dienlich ist." Riku legte resigniert sein Gesicht in seine Hände. Er seufzte "Du schmuggelst also Rum Pirat?"
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Die drei saßen Abends an einem Lagerfeuer. Riku hatte mittlerweile zusammen mit dem Piraten, dessen Name Caiden war, die halbe Flasche Rum geleert. "Du und ich, wir sind gar nicht so verschieden." Sagte Caiden zu Riku. Er war kaum noch Herr seiner Stimme, die zunehmend rauer und lallender wurde. "Du sagst, du bist mit einem Schiff auf eine Raumstadt geflogen und dort bist du gestrandet. Ich bin mit meinem Schiff auf diese Insel geraten und genauso gestrandet wie du." bei seinen letzten Worten tippte Caiden auf Rikus Brust, die Flasche Rum nach wie vor in der Hand. Riku nahm eben jene aus Caidens Fängen und lies einen weiteren Schluck seiner Kehle hinunter rauschen. "Es heißt Raumstation." berichtigte er ihn. "Was ist also unser Plan? Wir öffnen ein weiteres Wurmloch, gehen nach Paris und suchen Jules Vernes." So wie er die Worte sagte klangen sie merkwürdig - selbst im alkoholisierten Zustand. Anya, so hieß das Mädchen, ein Android aus einer ferneren Zukunft, die durch die Zeit reist, um den Weltuntergang zu verhindern (auch das klang befremdlich und surreal in Rikus Gedanken), antwortete "Einen Plan habe ich nicht. Ich werde einen entwerfen, so wie ich in der Situation bin. Ich gebe zu, ich könnte Hilfe gebrauchen, meine Mission zu erfüllen. Wenn ihr mir folgt und wir erfolgreich waren, bringe ich euch wieder in eure Zeit zurück. Doch diesmal mit der Gewissheit, das die Menschheit nicht im Jahre 2279 ausstirbt." Riku nickte, dabei ins Feuer blickend "Ich schätze, ich habe gar keine andere Wahl. Hier auf dieser Insel werde ich sterben. Der Boden ist nicht fruchtbar genug, um meine Pflanzen anzubauen." sein Blick wanderte anschließend zu Caiden. "Ich stehe noch in eurer Schuld Anya. Ihr habt mir das Leben gerettet. Außerdem bin ich auch nicht in der Lage, diese Insel zu verlassen und euer Vorhaben klingt nach einem unterhaltsamen Abenteuer." Riku könnte sich auch täuschen, ob der dunklen Lichtverhältnisse und dem Rum in seiner Blutbahn, doch der Android Anya schien für einen kurzen Moment zu lächeln. "Ihr solltet euch nun Schlafen legen. Euer Körper braucht diese Ruhezeit. Porta und ich werden ebenfalls in den Ruhemodus wechseln, um unsere Kreisläufe zu schonen." sprach sie in die Runde. Riku lies sich blind in den Strand fallen und schloss die Augen.
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Seine Nacht verlief traumlos. Als er aufwachte kreisten Möwen über ihm am strahlend blauen Firmament. Anya befand sich bereits mit Porta, der Maschine, welche die Wurmlöcher erschuf, etwas abseits von ihnen und gab etwas an dem Display der Kugel ein. Riku ging zu den beiden. "Sind wir bereit?" fragte er. "In wenigen Minuten, Riku Takahashi." Anyas Gesicht schimmerte bläulich von dem Display. Riku nutzte die Zeit, sich an dem Fass mit Regenwasser frisch zu machen. Er wusch sich das Gesicht und trank einen großen Schluck. Am mittlerweile ausgebrannten Lagerfeuer konnte er beobachten, wie Caiden etwas vorbereitete. Es sah so aus als würde er Spielkarten sortieren. Im Augenwinkel vernahm er dann wieder ein grelles Licht. Porta hatte das Wurmloch erstellt und jubelte dabei. Riku und Caiden machten sich auf zum Portal. "Dann retten wir mal die Welt." sagte Riku witzelnd, noch immer konnte er nicht fassen was in den letzten Stunden passierte und was er gerade vor hatte. "Bin bereit. " Caiden streckte sich. "Unsere nächste Destination ist Paris. Es ist das Jahr 1842, vor Jules Vernes Verlag. Dort treffen wir ihn hoffentlich bald an." Anya ging auf das nun geöffnete Portal zu, an dessen Gegenseite Kopfsteinpflaster und Straßenlaternen zu sehen waren. Als sie hindurch schritt, folgte ihr Riku wortlos. Er drehte sich noch einmal zu Caiden um, der sich ebenfalls vorsichtig, aber zielsicher in seine Zukunft und Rikus Vergangenheit bewegte.
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Pompidou schaute dem Treiben zu. Sie war wie angezogen von dem leuchtendem Ding. Leuchtende Dinger haben sie schon immer fasziniert. Was so schön hell ist, kann nicht gefährlich sein, dachte sie sich und flog von ihrer Palme, auf der sie genächtigt hatte, unbemerkt durch das Portal, bevor es sich wieder schloss.
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James Wallet